Von Pierre KARLI
Emeritierter Professor für Neurophysiologie der Universität Straßburg
Mitglied der Académie des Sciences am Institut de France
Ehrenpräsident des Forum Humaniste Rhénan / Forum Humanismus am Oberrhein
Wohin geht der Mensch? Wohin lenkt er seine Schritte? Diese Frage stellt sich gegenwärtig umso brennender, als die gegenwärtigen Veränderungen die zwischenmenschlichen Beziehungen bereits erheblich beschädigt und zur Auflösung unseres traditionellen gesellschaftlichen Gefüges geführt haben. Auch die moralischen Einstellungen und Dispositionen des Einzelnen und der Gemeinschaft, sind erheblich erschüttert worden. Weitgehende und ernsthafte Kurskorrekturen sind erforderlich, um einen weiteren Verfall zu verhindern. Konkret bedeutet dies, dass wir zunächst mit allem Scharfsinn und aller Entschlossenheit ein breit angelegtes Bewusstsein für die herrschenden Verhältnisse entwickeln müssen. Sodann gilt es, eine tiefgreifende Erneuerung unseres Denkens, aber auch unseres Seins und Handelns als Ausdrucksform des neuen Denkens einzuleiten.
Doch wo und wie finden wir die Mittel, die uns helfen, diesen Zielen näher zu kommen, zumal der Weg dorthin zwar ohne Alternative, aber doch mit Hindernissen und Schwierigkeiten gepflastert ist? Nur Bildung und Erziehung im allerweitesten Sinne werden uns auf diesem steinigen Weg helfen.
Was Erziehung und Bildung uns auf unserem Lebensweg mitgeben können, ist zu reichhaltig und zu vielfältig, als dass es sich in ein paar Sätze fassen ließe. Dagegen lassen sich allerdings einige Fragen formulieren, die sehr aktuell sind und eine grundlegende Kategorie der conditio humana aufgreifen: Wollen wir auch weiterhin den Akzent allein auf die Weiterentwicklung des „Marktwerts” unserer Jugend legen? Wollen wir sie weiterhin nur nach Maßgabe ihres Nutzwertes als menschliche Ressource beurteilen, nach ihrer Tauglichkeit für eine Beschäftigung, nach ihrer Flexibilität, nach ihrer Eignung für eine einträgliche Karriere, also aus dem Blickwinkel der Produktion von Humankapital, das erbarmungslos vor den Wagen jener Finanzökonomie gespannt wird, die zunehmend alle Bereiche des Lebens unterjocht?
Oder wäre es im Gegenteil nicht unvergleichlich besser, in den Mittelpunkt die Entfaltung und Weiterentwicklung des „menschlichen Werts” unserer Jugend zu rücken, eines Werts, der es ihr im Wort, im Fühlen und Empfinden für moralische Kategorien ermöglicht, ihre Freiheit im Denken und Handeln zu finden?
Hier entfaltet sich der kritische Geist auf seiner Suche nach Sinn und geistigen Horizonten. Hier entdeckt der junge Mensch die wahren kulturellen Werte einschließlich der großen Werke und Errungenschaften der Menschheit – weit jenseits aller sogenannten „Kulturprodukte”, welche die „Kulturindustrie” heutzutage hervorbringt. Die Antwort ist eindeutig: Die wahre Kultur muss für den Menschen den absoluten Vorrang haben. Schließlich ist er aus einer Entwicklung hervorgegangen, die von biologischen und kulturellen Faktoren gleichermaßen geprägt war und in der die Interaktion zwischen biologischer und sozialer Ebene einen anhaltenden Grundton bildete. Der Mensch ist Schöpfer und zugleich Geschöpf der Kultur, und nichts darf ihn daran hindern, seinem kulturellen Wirken den Rang und die Rolle einzuräumen und zu sichern, die ihm zukommen.
Wenn wir uns nun aufgerufen fühlen, gerade in der Region am Oberrhein die Initiative zu ergreifen, und eine Umkehr des Denkens und Neuausrichtung von Bildung und Erziehung des Menschen anstreben, so knüpfen wir damit an Zeiten an, da der Rheinische Humanismus in dieser Region erblühte. Im 15. und 16. Jahrhundert haben große Denkern wie Erasmus von Rotterdam und Beatus Rhenanus Europa viel geben und unseren Kontinent nachhaltig prägen können. Die Spuren dieser großen Humanisten sind bis auf den heutigen Tag allenthalben zu finden. Es gilt nun, die Fackel aufzunehmen und sie weiter zu tragen. Wir wollen mit kluger Weitsicht, mit Mut und Entschlossenheit den Weg zu einer neuen Renaissance bahnen. Es ist dies gewiss eine schwierige Aufgabe, und sie bedarf eines langen Atems. Aber es ist nun eben auch eine Mission von lebenswichtiger Bedeutung – für die Zukunft unserer Region und weit darüber hinaus.
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